Der olympische Surfsport in Deutschland kommt wieder in Fahrt. 2012 waren die Frauen durch Moana Delle, 2016 die Männer durch Toni Wilhelm das letzte Mal dabei. Für Tokio strich der DSV sein Engagement. Aber 2024 könnte es wieder einen Start geben. Heiße Anwärterin für Marseille: Lena Erdil.
Vor wenigen Wochen Frankreich, aktuell Japan und im Mai Südkorea. Der Reminder auf dem Smartphone von Lena Erdil zeigt den Reiseplan der Surfelite – den Plan, wie er gewesen wäre, wenn es nicht Corona gäbe. Doch Virtualität und Realität klaffen weit auseinander. Statt Land der aufgehenden Sonne ist es für die 31-Jährige das Saarland geworden – ein Besuch bei der Familie ihres Freundes. Die Profi-Surferin sitzt buchstäblich auf dem Trockenen, fürchtet, dass es in diesem Jahr kaum noch die Chance zu Wettbewerben geben wird: „Viele Events sind bereits gestrichen, noch stehen ein paar für September im Kalender, aber ich fürchte, dass sich die Situation so schnell nicht wieder normalisiert. Das ist schon sehr traurig.“ Dabei hatte sie in diesem Jahr viel vor – mit neuer Segel-Nummer und mit einem klaren Ziel eines Olympiastarts für Deutschland in 2024.
„GER 33“ prangt seit dieser Saison in großen Lettern auf ihrem schwarzen Segel, nachdem die Deutsch-Türkin bisher für die Türkei gestartet ist und dort drei Vize-WM-Titel im PWA-Circuit (2014, 2016, 2018) sowie zwei WM-Titel in der IFCA (2015, 2016) eingefahren hat. Nun möchte sie in neuer Konstellation durchstarten. „Ich wollte mich nach meiner Fußverletzung im November 2018 in dieser Saison ganz auf die Slalom-Rennen konzentrieren und würde gern einen Weltmeistertitel für Deutschland gewinnen“, erklärt Lena Erdil, für die „Nationalität eigentlich ein fremdes Konzept“ ist. Geboren in Izmir als Tochter eines Türken und einer Deutschen, wuchs sie in Göttingen auf, zog schließlich nach Brüssel und legte dort das Abitur ab. In England studierte sie Politik und Philosophie, stieg danach (2013) in den weltweiten Circuit der Profisurfer ein und betreibt in Bodrum/Türkei eine eigene Windsurfschule. „In den vergangenen Jahren bin ich für die Türkei gesurft, jetzt würde ich gern meine deutsche Seite ausleben“, sagt Lena Erdil, die inzwischen in Hamburg lebt.
Im Worldcup stellt der Wechsel der Startlandes kein Problem dar, da Lena Erdil beide Staatsbürgerschaften besitzt. Ein Start bei Olympia unter schwarz-rot-goldener Flagge bei den nächsten Spielen wäre indes aufgrund der Statuten schwierig geworden. Doch 2020 bzw. nun 2021 stand auch gar nicht zur Debatte. Denn das aktuelle RS:X-Board stellt für die Wellen- und Slalom-Spezialistin keinen Reiz dar.
Aber mit dem Wechsel des Olympia-Equipments für Marseille 2024 auf die Foil-Variante (iQFoil) hat sich die Sichtweise geändert: „Als ich das neue Equipment gesehen hatte, bekam ich sofort Lust und habe mir auch schon das Material bestellt. Noch ist es allerdings nicht angekommen.“ Foil-Erfahrung auf dem Surfbrett hat Lena Erdil aber schon, daher rückt der olympische Sport nun mehr in den Fokus. „Natürlich muss ich noch mein taktisches Vermögen schulen, denn beim Slalom surfen wir ja ausschließlich Downwind. Da kommt es auf Top-Starts, Vollspeed und gute Halsen an.“
Der Einstieg ins Surfen wurde der zierlichen Powerfrau durch die Eltern geebnet, die seit 2006 in Bodrum die Windsurfschule aufgebaut haben. Schnell fand Lena Erdil in den Umgang mit Brett, Segel, Wind und Wellen hinein und surfte im Alter von 18 Jahren erstmals im Worldcup. Kontinuierlich steigerte sie sich im Slalom, kam spätestens 2012 in der absoluten Weltspitze an, als sie die Disziplinwertung auf Rang drei abschloss. Ab 2016 ging sie beim Worldcup auch in der Wave-Disziplin in die Wellen, 2018 kam zudem Freestyle dazu. Vor zwei Jahren war sie damit in allen drei Wettbewerben vertreten, erreichte ihre bisher höchste Punktzahl im Worldcup. Doch dann kam der größte Rückschlag ihrer Karriere. Beim Wave-Worldcup vor Gran Canaria setzte Lena Erdil einen Front-Loop zu flach, brach sich beim Landen den Mittelfuß. Mehrfach musste der Bruch genagelt werden, monatelang war damit nicht an Surfen zu denken.
Die Saison 2019 war damit gelaufen. Inzwischen steht Lena Erdil wieder bereit – wäre da nicht das Corona-Virus. Doch die Hamburgerin ist nicht im Stillstand, hält sich im Home-Office fit und arbeitet an der Taktik-Theorie. Zum neuen Jahr hat sie sich dem NRV angeschlossen, wurde dort auch ins Olympic Team aufgenommen: „Ich wurde da sehr freundlich empfangen, fühle mich in sehr guten Händen und kann von der Erfahrung viel profitieren.“ Anfang Februar gab es eine erste Schulung mit Philipp Buhl sowie Erik Heil und Thomas Plößel. „Da ging es zwar noch nicht um Segelstrategie, aber es war ein guter Erfahrungsaustausch mit sportpsychologischen Aspekten.“ Zum Empfang der WM-Medaillengewinner in Hamburg war Lena Erdil auch dabei und konnte Kontakt zu DSV-Sportdirektorin Nadine Stegenwalner knüpfen. Wegen Corona ist der Informationsaustausch aber vorerst ins Stocken geraten. Die DSV-Strukturen müssen erst aufgebaut werden. Beim NRV hingegen entsteht eine echte Surf-Zelle. Denn auch Helena Wanser, bisher mit ihrer Schwester Luise im 470er unterwegs, will zur neuen Olympiade auf das iQFoil-Brett umsteigen.
„Auch wenn es momentan alles noch etwas unklar ist – von einer möglichen Förderung bis hin zum olympischen Format, und die Situation wegen Corona schwierig ist, freue ich mich auf die neue Herausforderung. Mit dem NRV Olympic Team hat es bisher alles super geklappt. Slalom- und olympisches Surfen will ich erst einmal parallel betreiben, und ich hoffe, bald auf der Ostsee, vielleicht vor Kiel auf das Wasser zu können“, beschreibt Lena Erdil ihre neue Herausforderung.
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