Porträt: Guillaume Verdier – Der Mann, der Boote fliegen lässt

Der Fluglehrer

Er hat den Segelsport für immer verändert. Doch wenn man ihn darauf anspricht, verweist er lieber auf seine Kollegen. Guillaume Verdier – ein ebenso genialer wie bescheidener Yachtdesigner, der an vier von fünf IMOCA-Booten beim aktuellen The Ocean Race mitgearbeitet hat.

Vier von fünf führenden Imoca-Rennyachten bei The Ocean Race hat er alleine oder in Zusammenarbeit mit dem Konstruktionsbüro VPLP entworfen. Der auf Tragflächen fliegende Trimaran Gitana 17 stammt ebenfalls von ihm. Die AC-75-Rennyachten, auf denen der America’s Cup (AC) gesegelt wird, sind ohne ihn kaum denkbar.

GITANA stammt ebenfalls aus der Feder Verdiers. Bild: Gitana

„Er ist im Moment der beste Yachtdesigner auf dem Planeten. Sein innovatives, unkonventionelles Denken hat den Segelsport verändert“, sagt Grant Dalton, Teamchef des AC-Verteidigers Emirates Team New Zealand (ETNZ). Die Rede ist von Guillaume Verdier. Wir sprachen mit ihm vor der letzten Vendée Globe, als er gerade an der aktuellen Yacht von 11th hour arbeitete.

Verdier entwarf die IMOCA für 11th Hour extra für The Ocean Race © 11th hour racing

Im Videogespräch erzählt Guillaume Verdier eine Anekdote von der Entstehung der AC-75-Klasse. Der America’s Cup 2017 wurde auf AC-50-Katamaranen mit Tragflügeln ausgetragen – aktuell segelt diese Klasse im SailGP. Im Vorfeld vermittelte Ray Davies, Taktiker von ETNZ, Verdier einen privaten Vorauftrag für einen 40-Fuß-Einrümpfer mit Foils. Man traf sich zu dritt zum Wein und der Designer skizzierte ein Boot mit Neigekiel und Tragflügeln. Davies schlug im Scherz vor, wegen des Widerstands auf den Kiel zu verzichten.

Verdier hat die AC75-Klasse erfunden – bei einem Glas Wein im Kreis von Freunden Bild: COR 36 | Studio Borlenghi

Guillaume Verdier wandte ein, dass es so einem Monohull an Gewichtsstabilität fehlen würde, doch er erinnerte sich auch an einen Entwurf seines Kollegen Martin Defline. Er hatte einen Kimmkieler mit zwei schwenkbaren Kielfinnen und Ballastbomben gezeichnet. Was, wenn man diesen Bomben die Form von Tragflächen gäbe? Dann hätte man Foils und Gewichtsstabilität zugleich. Die Runde einigte sich darauf, der Idee eine Chance zu geben und zwei Wochen Zeit in ein vorläufiges Design zu investieren.

„Nach zwei Tagen wussten wir, dass diese Variante 50 Prozent effizienter wäre als die Kombination aus Neigekiel und Foils“, sagt Guillaume Verdier. Das Boot wurde nie gebaut, doch nachdem Neuseeland den Cup 2017 gewonnen hatte, schlug Ray Davies den Verdier-Entwurf als Basis für eine neue Cup-Klasse vor. Man lud ihn in einen Simulator hoch, machte eine Art Computerspiel daraus, lud den neuen Herausforderer Luna Rossa Prada Pirelli dazu ein – und der Rest ist Cup-Geschichte.

Mit dem Segeln begann Guillaume Verdier als Kind. Er wuchs in Paris auf. Seine Eltern besaßen kein eigenes Boot, hatten aber einen Hang zum Segeln. Wie viele andere Franzosen schickten sie ihren Sohn regelmäßig ins Ferienlager. So verbrachte Verdier ab seinem achten Lebensjahr die Schulferien in Segelcamps in der Nähe von Brest und lernte segeln auf Jollen und Katamaranen. „Ich erinnere mich noch daran, dass ich jeden Abend mit kalten Füßen ins Bett gegangen bin. Und alles war voller Matsch“, sagt er.

Nach dem Abitur schrieb Guillaume Verdier sich für ein Mathematikstudium ein. Mit dem französischen Bildungssystem hatte er schon als Schüler zu kämpfen. Nun stellte sich heraus, dass er seine Kreativität auf einer Hochschule auch nicht ausleben konnte. Da erinnerte sich Verdier an einen Segellehrer aus dem Ferienlager, der ihm erzählt hatte, dass er nach England gehen würde, um Yachtdesign zu studieren. Verdier recherchierte, stieß auf die Universität Southampton und zog los, um Yachtdesigner zu werden.

Nach dem Abschluss begann Guillaume Verdier eine Promotion in Kopenhagen. In diesem Rahmen suchte er die Zusammenarbeit mit dem französischen Yachtdesigner Pascal Conq. Das Konstruktionsbüro Finot/Conq war in den 1990er Jahren führend im Entwurf von Imoca-Yachten. Géodis, das Boot, mit dem Christophe Auguin 1996/97 die Vendée Globe gewann, war eine der ersten Imoca-Yachten mit Neigekiel. Als Conq Verdier eine Stelle anbot, ließ der junge Designer seinen Doktortitel sausen und stieg ein.

Die erste Imoca, die Guillaume Verdier bei Finot/Conq entwarf, war Giovanni Soldinis Fila. 1998 ging Soldinis Mitsegler und Verdiers Co-Designer Andrea Romanelli über Bord, als das Boot bei dem Versuch kenterte, einen Rekord für die schnellste Atlantiküberquerung aufzustellen. Romanelli wurde nie gefunden, ebenso wie Gerry Roufs, dessen von Finot/Conq entworfene Imoca Groupe LG 2 bei der Vendée Globe 1996/97 durchgekentert war. „Ich war ziemlich schockiert von diesem Berufseinstieg“, sagt Verdier.

Von Finot/Conq stammte auch Aquitaine Innovations von Yves Parlier, die erste Imoca-Yacht mit Flügelmast. Parlier musste zwar bei der Vendée Globe 1996/97 wegen eines Ruderschadens aufgeben, aber der Kontakt erwies sich für Guillaume Verdiers weitere Karriere als entscheidend. Parlier plante bald ein Projekt namens Hydraplaneur. Hydraplaneur war ein 60-Fuß-Katamaran mit zwei Masten, Kimmkanten und Stufen in den Rümpfen wie bei Wasserflugzeugen.

Das erste große Projekt: Hydraplaneur

Hydraplaneur hatte Schwerter und T-Foils an den Rudern. Tragflächen, die den ganzen Rumpf aus dem Wasser heben können, wurden damals noch nicht auf Booten dieser Größe eingesetzt. Das Konzept stammte von Jean Francois Morice, der einen 20 Fuß langen Strandkatamaran in dieser Form gebaut hatte. Yves Parlier wollte Morices Idee abwandeln, um ein Boot zu bauen, das Rekorde brechen sollte. Guillaume Verdier ergriff die Chance und machte sich 2001 mit einem eigenen Konstruktionsbüro selbstständig.

„Ich bin kein besonders guter Angestellter“, sagt Verdier, „und ich mag Menschen auch nicht sagen, was sie zu tun haben.“ Darum arbeitet er seitdem projektweise mit selbstständigen Yachtdesignern und Ingenieuren, die Freunde geworden sind. Einer ihnen ist Hervé Penfornis. „Unsere Arbeitsweise unterscheidet sich sehr von der eines normalen Designbüros“ sagt er. „Zunächst einmal haben wir gar kein gemeinsames Büro. Wir sind alle über die ganze Welt verstreut. Wir arbeiten eher wie ein Netzwerk.“

Diese Arbeitsweise hat ihre Tücken. Die Beteiligten stecken immer in mehreren Projekten gleichzeitig. Das macht es schwierig, freie Leute zu bekommen, wenn ein neues Projekt gestartet wird. In der Regel ist es Verdier, der koordiniert und designt, aber er betont, dass er „nur ein kleines Rädchen im Getriebe“ sei. „Ohne sie wäre ich nichts. Manchmal korrigieren sie meine Fehler und manchmal ist es andersherum. Wir helfen einander“, sagt er über seine Mitstreiter und zählt bei jedem Projekt die Beteiligten minutiös auf.

Es gelang, mit Hydraplaneur 2006 den angepeilten Geschwindigkeitsrekord aufzustellen. In den 2000ern beteiligte sich Guillaume Verdier außerdem an französischen Kampagnen für den America’s Cup, während er weiter an Imocas wie PRB von Vincent Riou arbeitete. Dann begann eine Phase der Zusammenarbeit mit dem Konstruktionsbüro VPLP. VPLP waren Spezialisten für Multihulls, Verdier brachte Imoca-Erfahrung mit. Es entstanden wegweisende Imocas wie Safran, die heutige MASCF von Isabelle Joschke.

VPLP sind eigentlich Spezialisten für Multihulls. Sie holten sich das Fachwissen von Verdier hinzu, der an vielen IMOCA mitarbeitete

Yann Dollo, Werftchef von CDK Technologies, sagt über die Zusammenarbeit: „Dem Tandem VPLP-Verdier ist es zu verdanken, dass CDK die Boote der letzten beiden Gewinner der Vendée Globe bauen konnte (MACIF im Jahr 2012, Banque Populaire 8 im Jahr 2016).” 2010 begann Guillaume Verdier, für ETNZ zu arbeiten. Als er in Auckland war, wo eine mit VPLP designte Imoca vom Stapel lief, lud sein alter Kollege Nick Holroyd, der bei ETNZ im Designteam arbeitete, ihn zu einem Blick hinter die Kulissen ein.

Zwei Wochen später war Guillaume Verdier Teil des ETNZ. Das Team steckte gerade in den Vorbereitungen für den America’s Cup 2013 und suchte nach Lücken in den Regeln für die Katamarane, auf denen der Cup ausgesegelt werden sollte. Bald begann man, mit Tragflügeln zu experimentieren. Tragflächen auf Booten waren zu diesem Zeitpunkt im Grunde nichts Neues. Auf Motorbooten und Fähren waren sie schon seit Jahrzehnten im Einsatz und auch auf Segelbooten hatte man immer wieder damit experimentiert.

Verdier war maßgeblich an der Entwicklung der fliegenden Katamarane im America’s Cup 2013 beteiligt

Das damals jüngste Beispiel war der Trimaran Hydroptère. Auf die Tragflächen konnte sich dieses Boot aber nur auf einem sehr eng begrenzten Kurs zum Wind erheben: auf einem Halbwindkurs plus/minus wenige Grad. Weder am Wind noch auf raumen Kursen oder gar vor dem Wind kamen die damaligen foilenden Multihulls aus dem Wasser – was das Konzept für Regatten untauglich machte. Ein zweites Problem bestand darin, dass der Flug über das Wasser mit den damaligen Tragflächen kaum zu kontrollieren war.

Der Durchbruch kam durch Zufall, erzählt Guillaume Verdier. Ein Team um Glenn Ashby testete auf einem See an einem kleinen Katamaran namens „Waka“ verschiedene Tragflügelprofile aus Aluminium. Keines konnte die bekannten Probleme überwinden. Dann versagte eine Schweißnaht eines solchen L-förmigen Flügels, sodass seine Form eher einem V entsprach: sowohl der ursprünglich senkrechte als auch der waagerechte Schenkel waren nun zur Wasseroberfläche geneigt. Und plötzlich flog der Kat viel stabiler.

Mit dem V-Profil war das Prinzip des selbststabilisierenden Foils entdeckt worden. Der untere Teil des Tragflügels hebt den Rumpf aus dem Wasser, bis der Schenkel, der als Schwert wirkt, der Abdrift immer weniger entgegensetzt. Das Boot beginnt, seitlich abzudriften. Der Driftwinkel ändert die Anströmung des geneigten Schwerts so, dass es einen Abtrieb erzeugt. Der Rumpf sinkt wieder etwas, bis die Kräfte im Gleichgewicht sind. Mit solchen Foils konnten die Boote bald auch raumschots und sogar am Wind fliegen.

Doch bis aus einem abgeknickten Blech effektive Tragflügel werden konnten, brauchte es viel Arbeit. „Das Schöne an dem Designteam damals war, dass es eine große Vielfalt an Wissen zusammenbrachte“, sagt Guillaume Verdier. „Segler wie Ray Davies und Glenn Ashby, Designer wie Dan Bernasconi und Bobby Kleinschmidt. Alles enthusiastische junge Leute, viel engagierter als ich. Ich investiere ja nur einen Teil meiner Zeit. Aber ich bringe gerne Systeme durcheinander, das hilft manchmal, neue Perspektiven zu finden.”

Ein Porträt Verdiers im Team New Zealand-Dress

Der zweite Faktor neben den Foils und der Reduzierung ihres Widerstands war der entsprechende Antrieb, das gigantische Flügelsegel der AC-72-Katamarane. In Bezug auf die Fläche ist ein Flügelsegel ungefähr zweieinhalb Mal so effizient wie ein Tuchsegel, sagt Verdier. „Der Flügel war ein architektonisches Kunstwerk.“ Die Kombination hat den Durchbruch zum modernen Foilen gebracht. „Die Summe von Entwicklungen, das ist Evolution. Es war nur die Frage, wer diese Möglichkeiten zuerst miteinander kombiniert.“

Heute findet die Entwicklungsarbeit im Computer statt. Hervé Penfornis schreibt der gestiegenen Rechenleistung einen großen Anteil bei der Evolution des Foildesigns zu: „In den Tagen von Hydraplaneur waren wir auf teure Modelle und Tankversuche angewiesen. Jetzt sind wir in der Lage, hundert verschiedene Foils zu entwerfen und erhalten die Ergebnisse sehr schnell. Wir lassen haufenweise Testschleifen laufen, um sie zu prüfen und anzupassen, und auch das kostet Zeit, aber es ist weniger riskant als früher.“

Eigentlich sei es nicht möglich, dass Einrümpfer ohne Kiel abheben – so dachte Verdier zuerst Bild: COR 36 | Studio Borlenghi

Die aktuellen AC-75 sind ein Ergebnis der beschleunigten Entwicklung. Die Klassenregeln erlauben eine aktive Kontrolle mittels Trimmklappen. Damit ist das stabile Foilen auf diesen Booten nicht mehr nur eine Frage des Designs, sondern auch der Beherrschung durch die Crew. Doch der America’s Cup wird in Küstengewässern ausgetragen. Vor dem neuen Austragunsgort Barcelona kann es aber auch ruppig werden. Aktuell gesucht: ein Foildesign, das auf hoher See einen stabilen Flug über die Wellen ermöglicht.

Der Trimaran Gitana 17 fliegt bereits dreieinhalb bis vier Meter hoch, um beim Rennen um die Welt stabil zu fliegen.

Schwieriger ist es bei den Monohulls. Aktuell erlauben die Imoca-Klassenregeln keine T-Foils an den Rudern. Daher können diese Yachten noch nicht stabil fliegen. Im aktuellen Ocean Race sind die Flugphasen aber schon viel stabiler als noch in der letzten Vendée. Braucht es da überhaupt noch Trimmklappen?

Stabile Flugbedingungen bei der neuen IMOCA-Generation.

„Es ist ein Vergnügen, ihm bei der Arbeit zuzusehen“ sagt Charlie Enright, Skipper des Imoca-Teams 11th Hour Racing, über Guillaume Verdier. „Der Prozess ist offen, fortschrittlich und sehr fließend, und er ist sowohl ein Künstler als auch ein Könner.“

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