Der Herbst naht, die Tage werden kürzer, aber die Abende an Bord sind noch lange nicht vorbei. Die Redaktion hat ein paar Tipps für die Lektüre zusammengetragen. Von Klassikern bis hin zu ganz neuen Einsichten.
Die Schattenseiten der „Freiheit der See“
Ian Urbina erzählt packend vom zuweilen haarsträubenden Alltag auf hoher See. Zum Glück kommen auch ein paar Hoffnungsschimmer vor.
Von Jan Maas
Angenehm war es nicht, dieses Buch zu lesen, aber ich konnte es trotzdem nicht weglegen. „Outlaw Ocean. Die gesetzlose See“ bündelt Reportagen des US-amerikanischen Journalisten Ian Urbina. Zum größten Teil sind sie zuerst in der „New York Times“ erschienen. Was die Texte verbindet, ist ihr Schauplatz: die hohe See.
Die hohe See beginnt nach der 200 Seemeilen breiten Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), in der die Küstenländer noch in begrenztem Maß Hoheitsrechte ausüben. Jenseits dieser Grenze herrscht die „Freiheit der See“. Was das im 21. Jahrhundert bedeutet, ist kaum überraschend, aber dennoch bewegend.
Urbina hat jahrelang an Bord verschiedener Schiffe und Boote recherchiert. Was er erzählt, strotzt vor Leben – und Tod. Er begleitete somalische Fischer und Piraten ebenso wie die winzige Küstenwache von Palau, die sich gegen fremde Fischereiflotten in ihrer AWK zu wehren versucht. Er traf Menschenhändler in Thailand, die Fabrikschiffe mit Arbeitskräften versorgen, und Flüchtlinge, die auf hoher See entdeckt und auf Flößen ausgesetzt wurden.
Doch Urbina berichtet auch von Menschen, die sich gegen diese Zustände wehren. Eine niederländische Ärztin beispielsweise läuft mit ihrer Segelyacht Häfen in Ländern an, in denen ein Schwangerschaftsabbruch verboten ist. Sie nimmt Frauen an Bord und führt den Eingriff dann in internationalen Gewässern durch. Auch für solche Geschichten lohnt es sich, „Outlaw Ocean. Die gesetzlose See“ zu lesen. Eine letzte Bemerkung: Ich habe das Buch auf Englisch gelesen, über die Qualität der Übersetzung kann ich daher nichts sagen.
Ian Urbina – Outlaw Ocean. Die gesetzlose See*
Amazon Publishing, 2020, 656 Seiten
12,99 (Taschenbuch)
Erzählerische Kraft komprimiert auf 150 Seiten
Vor genau 70 Jahren setzte sich Ernest Hemingway an seinen Schreibtisch auf Kuba und begann die Erzählung, die ihn schlussendlich unsterblich machen sollte: „Der alte Mann und das Meer“.
Von Kai Köckeritz
Es gibt Erzählungen, die nie alt werden. Ich kann mich noch an meine erste Lektüre von „Der alte Mann und das Meer“ erinnern. Im Sommer nach dem Abitur hielt mich nichts mehr an Land und in einer Spätsommernacht an Bord las ich die knapp 150 Seiten in einem Rutsch durch. Von der Erzählung über den alten Fischer, der tagelang auf offener See mit einem riesigen Marlin ringt, hat bestimmt schon jeder gehört. Aber hat sie auch jeder gelesen? Ich versank bereits einige Male zwischen den Seiten. Die Erzählung begeistert mich jedes Mal aufs Neue und zieht mich in ihren Bann. Vor bald 70 Jahren zum ersten Mal erschienen, hat „Der alte Mann und das Meer“ nichts von seiner erzählerischen Kraft eingebüßt. Der knappe, aber kraftvolle Schreibstil Hemingways schildert den ewigen Kampf zwischen Mensch und Meer und endet mit dem Eingeständnis, dass die Natur doch obsiegt und der Mensch dies akzeptieren muss. Aber auch, dass der Mensch nach einem verlorenen Kampf wieder aufstehen und weitermachen muss.
Für mich ist und bleibt die Erzählung die schönste, die je über das Meer geschrieben wurde. Schön und unerbittlich zugleich.
Ernest Hemingway – Der alte Mann und das Meer*
Rowohlt Taschenbuch, 160 Seiten
10,00 Euro (Taschenbuch)
Das letzte Abenteuer
Ernest Shackletons gescheiterte Antarktisexpedition gehört zu einem der letzten großen Abenteuer unserer Zeit. Doch es gibt noch eine kaum erzählte Geschichte der Expedition.
Von Nikolas Woeckner
Im Jahr 1914 brach Shackleton mit zwei Schiffen in England auf, mit dem Ziel die Antarktis als erster Mensch komplett zu durchqueren. Shackletons Schiff „Endurance“ blieb jedoch im Packeis stecken, noch bevor es den eigentlichen Ausgangspunkt der Expedition erreichte. Die „Endurance“ wurde schließlich vom Packeis zerdrückt, was Shackleton und seine Männer zwang, mit den Rettungsbooten die Rückreise zu versuchen. Den Männern gelang es schließlich sich bis zur unbewohnten Insel Elephant Island durchzuschlagen. Hier entschied Shackleton mit einigen seiner Männer mit dem Rettungsboot „James Caird“ Hilfe zu holen. Der Rest der Männer sollte auf Elephant Island ausharren, bis Hilfe käme. Während sich die meisten Berichte mit ebendieser spektakulären und seemannschaftlich beeindruckenden Reise Shackletons beschäftigt, steht in Reinhold Messners Buch „Wild“ der Mann im Fokus, der von Shackleton auserkoren wurde, die 22 auf Elephant Island zurückgebliebenen Seeleute zu befehligen: Frank Wild. Messner, der 1989/90 zusammen mit Arved Fuchs die Antarkis zu Fuß durchquert hat, versteht es in diesem Buch auf beeindruckende Weise die physischen und psychischen Strapazen zu schildern, denen die Männer monatelang im antarktischen Winter ausgesetzt waren, und schafft es damit, einen gänzlich anderen Blick auf diese berühmte Expedition zu lenken. Denn nur Frank Wilds Führungskraft und Persönlichkeit ist es zu verdanken, dass alle Männer in ihrem Behelfsquartier ohne ausreichende Vorräte am Ender der Welt überlebten.
Reinhold Messner: Wild – oder der letzte Trip auf Erden *
Fischer Taschenbuch, 320 Seiten
10 Euro (Taschenbuch)
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