„Entspannt gleite ich vorbei an der Silhouette der Fraueninsel, der Campagnile grüßt unaufdringlich herüber…“ Andreas P. Rossteuscher beschreibt exemplarisch, wie er trotz Flaute auf dem Chiemsee Glücksgefühle beim Segeln erlebt.
Das Glück ist ja an sich ein schwieriges Thema. Die einen denken an viel Geld (schadet zumindest nicht), die anderen an Gesundheit (sehr vernünftig), einige Jüngere hoffen, zumindest wenn man manchen Umfragen glaubt, auf Fame, auf frühen Ruhm als Influencer oder Youtuber.
Die Glücksforscher gleichwohl propagieren meistens fast schon banale, dafür recht handfeste Faktoren für das tägliche Glück, angereichert mit ein wenig Spiritualität.
Bas Kast, der momentan wohl bekannteste unter den populärwissenschaftlichen Autoren, zählt auf, was er als die wichtigsten Punkte ausgemacht hat: ausreichend Schlaf, vernünftiges Essen, gute Freundschaften, regelmäßige Meditation.
Dann die tatsächlich fast platt klingenden, aber offenbar besonders effektiven Tipps: viel Licht, Kontakt zur Natur, ausreichend Bewegung – aber auch: ab und zu eine zwar ungefährliche, aber doch etwas extremere Erfahrung. Seine Beispiele: Fasten, Baden in eiskaltem Wasser oder auch nur die Hitze eines Saunaganges.
Oder: ein aufregender Sport – im Freien, fordernd, aber nicht unbedingt zu gefährlich. „Skill and Thrill“ – nennt das der australische Professor Ralph Buckley. Er hat in einer vielbeachteten Studie errechnet, um wie viel glücklicher und mental gesünder Menschen sind, die regelmäßig, Sie lesen richtig: Surfen, also Wellenreiten gehen. Nach Buckleys Berechnungen ersparen allein die glücklichen Surfer den weltweiten Gesundheitssystemen Ausgaben in Höhe von rund einer Billion US-Dollar. Weil sie Krankheitstage reduzieren und manche Therapien gar nicht erst nötig werden. Surfen ist natürlich nur ein Beispiel; aus Sicht Buckleys das nächstliegende: seine Universität liegt an der australischen Gold Coast.
Ein Montag Ende April. Ich sitze auf dem Trampolin meines Katamarans. Das Boot und ich bewegen sich mehr ungewöhnlich gemächlich zwischen Gstadt und der Fraueninsel. Der Himmel ist wolkenlos, blau, etwas diesig. Auf der Kampenwand liegt noch Schnee.
Es ist nur wenig Wind an diesem Nachmittag, kein anderer Segler auf dem See. Ab und zu tuckert ein Insulaner mit dem typischen grauen Fischerboot Richtung Fraueninsel, die ersten Schwalben des Jahres schießen durch die Luft. Ansonsten: Stille.
Es kommt mir fast so vor, als zöge der Mast meines Bootes wie eine Antenne diese Weite mit jedem Atemzug zu mir auf mein Trampolin. Zugegeben: mit „Skill and Thrill“ hat das gerade wenig zu tun. Aber die Ruhe auf dem Boot, die frische Luft um mich herum, das klare Wasser unter mir, der Geruch des Sees, die gezuckerten Berge im Hintergrund – wenn jetzt doch eine kleine Brise aufkommt und das Boot sofort mühe-, fast schwerelos Fahrt aufnimmt, verwandelt sich das ohnehin schon satte Wohlgefühl in Euphorie. Und in euphorische Vorfreude auf die kommende Segelsaison.
Dass an diesem eigentlich windstillen Tag mit fast spiegelglattem Wasser überhaupt eine Brise aufkommt, hat mit einer besonderen Eigenschaft des Makroklimas am Chiemsee im Frühjahr zu tun: Zu dieser Jahreszeit ist das Wasser noch so kalt, dass sich über der Wasseroberfläche eine Blase aus kalter Luft bildet und den leichten Wind, der von Osten kommt nach oben ablenkt. Der Chiemsee ist dann glatt wie ein Spiegel, gleichzeitig bläst in einer Höhe von drei bis fünf Metern eine leichte Brise. Man sieht also weder Wellen noch Wind und doch bewegt sich mein Cat wie von Zauberhand.
Entspannt gleite ich vorbei an der Silhouette der Fraueninsel, der Campagnile grüßt unaufdringlich herüber – Frauenwörth gilt ja als einer der schönsten Orte in Bayern, viele halten die seit Jahrtausenden besiedelte Insel auch für einen Kraftort. Wenn ich an ihr entlang segle, ist sie das für mich definitiv.
Zumal ich das Glück habe, dass die Schönheit der Insel quasi an mir vorüber gezogen wird, ohne dass ich mir die schmalen Wege mit ein paar Tausend Tagesausflüglern – denen die Insel selbstverständlich auch gegönnt sei – teilen muss.
Ich genieße alles, auch das Alleinsein auf dem Ein-Mann-Boot: keine nervige Diskussion mit der Crew über den falschen Kurs, den besseren Trimm oder das nächste Ziel – „Fahr dahin, wo der Wind ist, Du Depp“ – solche Ausrufe hört man oft bei Regatten – und auf die kann ich gerne verzichten.
Eine Regatta, oder auch nur das Segeln ganz allein bei viel Wind – das bietet dann das angesprochene „Skill and Thrill.“ Dann wenn der Wind ordentlich bläst, oder wenn vierzig Boote an der Startlinie um einen herumkreuzen und um eine gute Position an der Linie kämpfen, dann denkt man nicht daran, wie schön der Restschnee auf der Kampenwand ausschaut. Dann gilt die Konzentration nur noch dem Wind – der sich natürlich dauernd ändert, den Wellen, dem eigenen Boot, das wieder mal nicht macht, was man will; den anderen Booten, die sowieso nicht machen, was man will.
Es gibt beim Segeln so viele sich gegenseitig beeinflussende Faktoren. Sie zu meistern und auch noch den richtigen Trimm des Bootes zu finden, kann man guten Gewissens als „Skill and Thrill“ bezeichnen. Und weil kein Segler hier perfekt ist, ist immer auch eine gesunde Portion Optimismus vonnöten: Hoffnung auf den richtigen Wind, Hoffnung, dass man die richtigen Entscheidungen trifft. Soll heißen: Erfahrung und – hoffentlich – eine gewisse Geschicklichkeit vereinen sich mit der Erwartung, dass diesmal endlich mal alles zusammenpassen möge. Ein interessantes Gefühlgemisch, das ich so bei keiner anderen Beschäftigung erlebt habe.
Dazu kommt, wie schon angedeutet, dass sich beim Segeln ständig die äußeren Bedingungen ändern. Wind, Wolken und Wasser – alles ist in Bewegung. Sekündlich muss man sich der Umwelt anpassen und Lösungen finden. Die Sinne sind so sehr mit der Umgebung verbunden, dass man sich tatsächlich einem vielbeschworenen Zustand annähert: Einssein mit der Natur.
Und dann noch „Skill and Thrill“. Keine allzu große Überraschung, dass ein besonders beliebtes Segelvideo auf Youtube mit „Nothing else matters“ von Metallica unterlegt ist. Vielleicht ein bisschen pathetisch, ein ohnehin schon gefühliges Liebeslied als Begleitung für ein Segelvideo zu wählen – aber es passt halt auch.
Aber: Reicht das Alles über ein augenblickliches Wohlgefühl hinaus? Kann Segeln vielleicht sogar heilendwirken? Nun, wenn wir uns nochmal an die Tipps der Experten eingangs erinnern: Licht, Bewegung, Kontakt zur Natur, das fast meditative Konzentrieren auf eine Sache, das „Skill and Thrill“ …
Zugegeben: das bieten viele Sportarten im Freien. Und das ist auch gut so. Aber beim Segeln auf dem Chiemsee kommt noch manches hinzu: das Umgebensein von der riesigen Wasserfläche, allein mit Boot und Wind, dazu eine der schönsten Landschaften, die man sich in Bayern vorstellen kann, Hochplatte und Kampenwand, der Campagnile der Fraueninsel …
Die friedvolle Stimmung vom Chiemsee überträgt sich auf meine Gedanken. Und einmal mehr realisiere ich: Wer wie ich – und viele andere – zu negativen Gedanken neigt: auf dem Chiemsee vergehen sie wie von selbst, werden ersetzt durch ein Gefühl der tiefen Verbundenheit mit der Umgebung, vielleicht sogar mit der Welt.
Wenn ich mit dem Segeln- auch nur kurzfristig in diese Stimmung gleiten kann, dann erfahre ich so Inspiration und Glück. Hoffentlich bleibt mir dieses Glücksgefühl die komplette Segelsaison erhalten.
Text: Andreas P. Rossteuscher ( Fitbleibenmitsegeln.de)
Schreibe einen Kommentar