SR-Porträt: Bei Alveus Bootsbau in Potsdam kümmert man sich liebevoll um alte Holzboote

Melusine segelt wieder

Vor über 100 Jahren lief die Segelgig Melusine in Berlin-Stralau vom Stapel. Jetzt hat sie von Alveus Bootsbau in Potsdam ein neues Rigg erhalten. An Bord beim Probeschlag

Die Segelgig Melusine auf der Havel vor Berlin-Kladow

„Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen“, sagt Hilmar Dembler-Malik, bevor er langsam und vorsichtig mit dem angehängten Bootstrailer die Slipbahn hinunterfährt. Immerhin hat der geklinkerte Holzrumpf darauf jahrelang an Land gelegen. Niemand weiß, wann er zuletzt im Wasser war.

Dembler-Malik und Fritz Müller, die Bootsbauer, die sich um die Melusine kümmern, haben den Rumpf zwar fachmännisch gewässert, aber wie dicht die Außenhaut werden würde, konnte vor dem Slippen in Berlin-Kladow keiner ahnen.

Probeschlag auf der Havel

Doch die Melusine schwimmt. Nur an manchen Plankennähten bilden sich wenige Wassertropfen. Die Spannung löst sich. Es kann losgehen. Noch eben das Gespann parken, ein paar Leinen klarieren und dann kommt der historische Moment.

Dembler-Malik stößt das Boot vom Poller ab und hält auf das Windfeld vor der Insel Imchen zu. Es ist kaum zu sehen, aber die Segelgig ist leicht. Beim leisesten Hauch springt das Boot an. Dann schwimmt es nicht nur, es segelt auch zum ersten Mal seit langer Zeit. Die Bootsbauer grinsen.

Fritz Müller und Hilmar Dembler-Malik lassen die Melusine zum ersten Mal seit langem zu Wasser

Jetzt genießen sie einen Probetörn, bei dem nichts schiefgeht, sondern alles passt, sogar das Wetter. Der Himmel strahlt blau und morgens ist die Temperatur trotz gleißender Sonne noch gut zu ertragen.

Wind gibt es auch, aus West. Das könnte an dieser Stelle kaum besser sein, weil die Abdeckung es erlaubt, sich erstmal mit der Segelgig vertraut zu machen, bevor man sich etwas weiter auf die Havel hinauswagt, wo wegen der frühen Stunde noch kaum Segel zu sehen sind.

Segelgig zum Rudern und Segeln

Das Wort Gig steht laut Friedrich Kluges „Seemannssprache“ für ein „klinkerweise gebautes Boot von 16 bis 27 Fuß Länge, welches zum schnellen Rudern eingerichtet ist“. Im Rudersport dagegen bezeichnet man Wanderboote im Gegensatz zu Rennbooten als Gigs.

Jedenfalls sind Segelgigs der Form nach Ruderboote, auch wenn sie ebenso zum Segeln ausgerüstet sind. Die Melusine ist knapp acht Meter lang und etwas über einen Meter breit. Für ein Schwertboot ist ihr Rumpf entsprechend rank.

Hilmar Dembler-Malik stößt die Melusine zum ersten Probeschlag mit neuem Rigg ab

Im letzten Winter baute Hilmar Dembler-Malik der Melusine ein neues Rigg. In alten Unterlagen vergleichbarer Boote sind um 20 Quadratmeter vorgesehen. Das hielt der Bootsbauer für völlig übertakelt. Das neue Rigg kommt nun auf rund 10 Quadratmeter Segelfläche, verteilt auf Gaffelsegel und Fock.

Zwischendurch waren auch ein Luggersegel und ein geteilter Segelplan mit Besan im Gespräch, wie er in der zeitgenössischen Presse oft zu finden ist. Gesteuert wird mit einem freistehenden Ruder, das von unten eingesteckt und mit einer Gabelpinne fixiert wird.

Melusine will ausgeritten werden

Wie erwartet bietet die Segelgig wenig Formstabilität. Doch anders als befürchtet kommt es zu keiner Kenterung, nicht einmal annähernd. Allerdings will die Melusine aktiv gesegelt und ausgeritten werden. Schon kleine Böen lassen das Boot schnell krängen und drücken die Außenkante Deck unter Wasser.

Sehr breit ist das Seitendeck nicht. Deshalb herrscht ständig Bewegung. Man sitzt auf den Bodenbrettern, dann wieder auf dem Seitendeck, hängt über Bord, rutscht zurück auf die Bodenbretter.

Mit einem Meter Breite bei acht Metern Länge ist die Melusine extrem rank

Die Manövriereigenschaften sind mäßig. Das Boot hat einen großen Drehkreis, verliert in der Wende schnell Fahrt und treibt danach erst einmal eine Weile quer. Dafür gewinnt es schnell wieder an Geschwindigkeit und lässt sich dann mit viel Geduld auch am Wind segeln.

Eine effektive Kreuz kann man nicht erwarten, aber die Melusine macht langsam, aber sicher Weg nach Luv. Das Schwert bietet einen halben Quadratmeter Fläche, das Ruderblatt noch ein Viertel. Aber mit halbem Wind oder auf raumen Kursen macht das leichte Boot Spaß.

Gegen den Wind besser rudern 

Auf Strecken gegen den Wind lässt sich die Melusine besser rudern. Das sollte man allerdings noch im Hafen entscheiden. Zwar ist die Segelgig so konzipiert, dass sich alle Ausrüstungsgegenstände an Bord mitführen lassen, aber für einen Umbau unterwegs ist das Boot zu rank.

Ausleger für zwei Skullpaare sind schnell eingehängt. Auf zwei Rollsitzen können zwei Personen skullen, ein Steuermann findet im Heck Platz. Der kleine Spiegel eignet sich für ein angehängtes Ruder an Stelle des freistehenden unter dem Rumpf.

Bei Alveus Bootsbau in Potsdam erhielt die Melusine ein neues Rigg aus abgelagerter Kiefer

Segelgigs sind selten geworden, was unter anderem an ihrer filigranen Bauweise liegt. Vor über 100 Jahren jedoch waren diese Boote auf Binnengewässern üblich; es gab mehrere Klassen. 1906 gründeten engagierte Segler in Zeuthen an der Dahme die Wettfahrtvereinigung Berliner Gig-Segler.

Von einer Tourengig namens Gretel dagegen berichtete 1909 ein F. Rehfeldt in der Yacht. Sie war auf der Viktoria-Werft in Stralau gebaut worden, wo noch zwei weitere Boote im Bau waren, was für Nachfrage spricht.

Segelgig von Alt-Stralau

In ihrem Buch „Wandersegeln auf Binnengewässern“ erklärten Wilhelm und Klaus Scheibert 1928, die Segelgig sei aus dem Rudersport hervorgegangen.

Sie nennen unter anderem die „angenehme Eigenschaft, wegen [der] Leichtigkeit im Bootsschuppen untergebracht werden zu können, was im Hinblick auf den Mangel an geeigneten Liegeplätzen auf dem Wasser, der in Berlin z.B. von Tag zu Tag fühlbarer wird, von vielen sehr geschätzt ist.“ Im Laufe der Zeit lösten Jollen die Gigs als vorherrschende Schwertboote ab.

Gebaut wurde die Segelgig vor über 100 Jahren auf der Berliner Halbinsel Stralau

Das Typenschild der Melusine nennt die Germania-Bootswerft Wetzel & Stolt, Alt-Stralau No. 5 als Adresse. Die Halbinsel Stralau in der Spree beheimatete schon früh Bootswerften und Fischerhütten. Im 19. Jahrhundert gründeten Berliner Segler dort die Tavernengesellschaft, den ersten Segelverein in Deutschland.

Langsam verlagerte sich der Bootsbau auf Sportboote. Heute zeugt nur noch die Hansa-Werft davon. An Alt-Stralau Nr. 5 liegen würfelförmige Neubauten mit Blick auf den Treptower Park am Wasser.

Neuer Segelplan nach alten Rissen 

Über das erste Leben der Melusine ist außer dem Baujahr 1921 wenig bekannt. Eines Tages vor über zehn Jahren entdeckte die heutige Eignerin sie im Bootshaus Franz in Zeuthen. Mastkoker und Schwertkasten deuteten auf einen Segelbootsrumpf hin.

Die Eignerin beauftragte einen alten Bootsbauer in Königs Wusterhausen mit der Reparatur. Auf der Suche nach Informationen über die Takelage stieß sie über den Freundeskreis Klassische Yachten auf den Designer Christoph Geyer, der neue Pläne nach alten Rissen lieferte.

Fritz Müller (links) und Hilmar Dembler-Malik in der Werfthalle in Potsdam

Dann unterbrach die Familienplanung der Eignerin das Projekt für einige Jahre. Der alte Bootsbauer ging unterdessen in Rente. Im letzten Jahr entschied sich die Eignerin, das Projekt fortzusetzen. Auf der Suche nach einer Werft fürs Rigg stieß sie auf Alveus Bootsbau, den Betrieb von Hilmar Dembler-Malik und Fritz Müller in Potsdam.

Kennengelernt haben die beiden Bootsbauer sich jedoch am Ammersee, bei ihrer Ausbildung auf der Steinlechner Bootswerft. Dorthin haben sehr verschiedene Wege sie geführt.

Bootsbauer am Ammersee

Fritz Müller stammt aus Speyer. Sein Onkel lebt in Utting am Ammersee, wo auch die Steinlechner Bootswerft liegt. Auf seinen Besuchen beim Onkel sah Müller schon als Kind den Werftalltag am Seeufer und war fasziniert von den Booten. Als Jugendlicher kaufte er sich eine gebrauchte Kolibri-Jolle und segelte damit auf einem Altrheinarm.

Als in der 9. Klasse ein Betriebspraktikum anlag, bewarb er sich bei Steinlechner. Direkt im Anschluss bekam er einen Ausbildungsplatz angeboten, den er 2009 antrat.

Die faule Außenhaut eines Marinekutters mit bereits erneuerten Spanten

Hilmar Dembler-Malik hingegen stammt aus Berlin und ist auf Booten aufgewachsen. Er brach die Schule nach der 10. Klasse ab, um eine Ausbildung zum Heizungsbauer zu machen. Nach seinem Wehrdienst entschied er sich, das Abitur nachzumachen. Danach begann er ein Studium. Es erfüllte ihn jedoch genauso wenig wie zuvor der Heizungsbau.

Als er sich fragte, was ihm in seinem Leben bis dahin so richtig Spaß gemacht hatte, kam er bald auf Boote. Er suchte nach Werften im Süden und bekam einen Ausbildungsplatz bei Steinlechner.

Zusammen nach Berlin

Am Ammersee arbeiteten die beiden Auszubildenden nur wenige Monate zusammen. Als Dembler-Malik begann, war Müller schon im letzten Lehrjahr. Aber die Zeit reichte, um sich kennenzulernen und eine Zusammenarbeit anzupeilen.

Während Dembler-Malik seine Ausbildung fortsetzte, holte Müller ab 2013 zunächst in Mainz das Fachabitur nach. Danach belegte er in Frankfurt am Main den theoretischen Teil des Meisterkurses. Für den praktischen Teil in Travemünde stand Müller auf Platz 1 der Warteliste.

Der Jollenkreuzer im Vordergrund bekommt eine neue Kielplanke

Für Dembler-Malik stand aus familiären Gründen fest, nach Berlin zurückzukehren. Für Müller hingegen war der Umzug ein Versuch. Während Müller den Zuschlag für einen Platz im Meisterkurs bekam und zwischen Berlin und der Ostsee pendelte, gründete Dembler-Malik vor Ort ein Reisegewerbe.

So sammelte er erste Kunden und Aufträge – ohne Meisterbrief. Diesen brachte Fritz Müller schließlich im März 2016 bei, so dass die Partner ihre Werft rückwirkend zum 1. Januar als stehendes Gewerbe anmelden konnten.

Ein Hot Spot der Klassiker

Ihren gemeinsamen Betrieb in Potsdam benannten die Bootsbauer nach dem lateinischen Wort für Kahn. Die Halle liegt in einem Industriegebiet in Babelsberg, unweit des Flüsschens Nuthe, aber ohne eigenen Wasserzugang.

Mit der Gründung der Werft hätten sie in ein Wespennest gestochen, erzählen die beiden, weil die Nachfrage nach klassischen Holzbootswerften das Angebot in der Region bei weitem übersteigt. Berlin und Potsdam gehören zu den Hot Spots des Klassikerbooms.

Zum Segeln dient ein freistehendes Ruderblatt, zum Rudern hing früher ein anderes am Spiegel

Darin verfolgen Müller und Dembler-Malik ihre eigene Philosophie. Während manche Eigner anstreben, dass originale Materialien verarbeitet werden, motzen andere ihre Klassiker mit modernen Werkstoffen auf. Alveus sieht sich in der Mitte und begreift Boote als Gebrauchsgegenstände.

Es dürfen schwarze Stellen im Holz bleiben. „Wir wollen nicht die Geschichte wegrestaurieren“, sagt Hilmar Dembler-Malik. Das scheint anzukommen. Jedenfalls haben die Bootsbauer kürzlich eine zusätzliche Lagerhalle angemietet.

Liebhaber alter Boote

In der Werkstatt vorn liegt ein Jollenkreuzer, der einen neuen Kiel erhält. Dahinter ein Marinekutter, der komplett neu entsteht. Die Spanten sind schon eingebaut. Bald folgt die neue Beplankung. Eigentlich ein wahnwitziges Projekt, aber es gibt genug Liebhaber, die alte Boote neu erstehen sehen möchten.

Wie die Melusine, die nach dem Probeschlag wieder auf dem Trailer liegt und durch den Lenzer leer läuft. Aus dem Schwertkasten ist etwas Wasser geschwappt. Ganz trocken ist das Boot doch nicht geblieben.

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