Route du Rhum/Class 40: Ambrogio Beccaria greift mit neuester Pirelli-Yacht Spitze an

Italiener ärgert Franzosen

Nach seinem Sieg bei der Mini-Transat 2019 führte Beccarias Weg konsequent nach oben. Jetzt beweist er auf seiner nagelneuen Class 40 Siegchancen bei der Route du Rhum.

Alles wie vorhergesagt und vermutet, bei der Class 40: Das Rennen ist von der Startlinie weg sehr eng, die Abstände unter den Top Five belaufen sich seit Tagen auf ein paar Seemeilen. Stand 15.11. um 10 Uhr, ziemlich genau zwischen den Azoren-Inseln: Simon Koster ist als Fünfter schlappe 40 Seemeilen hinter dem Führenden Yoann Richomme unterwegs. Der Titelverteidiger segelt auf seinem nagelneuen Boot seit drei Tagen an der Spitze nun mit 20 Meilen Vorsprung.

© pirelli/beccaria

Auf Rang Zwei Macaire, gefolgt von Douguet (14 und 18 sm Rückstand) – beide gelten ebenfalls als besonders heiße Favoriten zumindest für einen Treppchenplatz in Guadeloupe. Nur Ian Lipinski fehlt in der Favoritenrunde – der hatte vorgestern Probleme mit einem Vorsegelfall, das aus dem Segel und aufwärts rauschte. Um es wieder zurück zu holen, musste Lipinski in den Mast. Ein Manöver, das er mittlerweile zwar erledigt hat, für das er allerdings ruhigere Gewässer weiter südlich aufsuchen musste und so den Anschluss zur Spitze verlor. Auf Rang 4, mit 26 sm Abstand zum Führenden dann Ambrogio Beccaria.

Glück oder Zufall?

Moment mal – Beccaria, dieser in der Class 40 noch als Rookie geführte Italiener mit seinem nagelneuen Custom Bau und dem überaus kleidsamen, weil prestigeträchtigen Sponsor Pirelli? DER Beccaria, den Offshore-Fans längst aus einer ganz anderen Bootsklasse kennen? Um ganz ehrlich zu sein: Als wir Ambrogio Beccaria in unserer Route du Rhum-Vorschau unter dem „Dutzend Favoriten“ für die Class 40 nannten, war das eher eine Formsache.

Gemeinsam mit Ian Lipinski bei der Les Sables/Horta-Doublehanded Regatta © les sables/horta

Denn schließlich wartete der Italiener mit einem nagelneuen, kaum erprobten Boot auf. Dass Beccaria ganz nebenbei bemerkt auch noch segeln kann, hatte er zwar oft genug bewiesen. Aber noch im Single-Modus auf einer Class 40. Und nun ist er bei der Creme de la Creme des Einhandsegelns ganz vorne dabei? Glück oder Zufall?

Weder noch: Ambrogio Beccaria ist genau da, wo ihn einer der kompetentesten Kenner der französischen Hochseeszene vermutet hatte. Kein anderer als der legendäre Mini-, Figaro- und Class 40-Trainer Tanguy Leglatin hatte ihm im Vorfeld der Route du Rhum echte Chancen auf einen Sieg bei der Class 40 eingeräumt. „Ihm fehlt es eindeutig an Vorbereitungszeit. Doch wenn sein neues Boot die erste Woche schadlos übersteht und er dann in der Spitze mitsegelt, würde ich durchaus auf ihn setzen!“

Macht die Boote schnell – irgendwie!

Dass ausgerechnet Leglatin so überzeugt von dem Italiener ist, hat natürlich seine Gründe. Die wiederum aus einer anderen legendären Hochseeklasse resultieren, in der Beccaria einige Jahre lang glänzte. Denn tatsächlich ist Insidern der Name noch aus der vorletzten Mini Transat bekannt: Ambrogio Beccaria siegte 2019 überlegen in der Serienwertung, indem er mal eben locker in der ersten und dann auch noch in der zweiten Etappe triumphierte.

Damals war der Italiener auf seiner Pogo 3 dermaßen schnell unterwegs, dass viele der anderen „schnellen Ministen“ nahezu verzweifelten. Egal bei welchem Training der Italiener auftauchte – immer war er einen Knoten schneller als die Konkurrenz. Speed-Füchse wie der Deutsche Hendrik Witzmann sagten damals, dass Beccarias Bootsgeschwindigkeiten eigentlich kaum zu glauben seien. Und auf die Frage, was er denn um alles in der Welt an seinem Boot gemacht habe, zuckte Ambrogio logischerweise nur mit den Achseln. „Nicht viel – vielleicht segle ich ja einfach nur gut?“.

Lag’s am Boot?

Was sich übrigens bestätigen sollte. Denn als Lennart Burke nach Ambrogios Mini-Transat-Sieg dessen Boot für die eigene Mini-Segelei kaufte, musst er zunächst einmal feststellen, dass beim Erwerb von Siegerbooten nicht automatisch die nächsten Siege mitgeliefert werden.

Die Situation bei den Class40 auf Höhe der Azoren. Der Italiener liegt bestens platziert, Richomme führt.

Und dennoch ist das Geheimnis rund um die Erfolge des 31-Jährigen wohl zu einem Großteil in seinem technischen Verständnis zu suchen. Denn der studierte „ingegnere navale“ – Ingenieur für Schiffstechnik – ist sogar in den an technischen Talenten nicht geraden armen, französischen Seglerkreisen als „begnadet“ bekannt.

Was er schon früh mit der Restaurierung eines Minis bewies, dessen Zustand beim Erwerb man nur als „Wrack“ bezeichnen konnte. Damit segelte der Italiener immerhin seine erste Mini Transat im Jahr 2017, bei der er unauffällig 26igster wurde. Sich danach jedoch bei der Shorthanded-.Hochseesegelei regelrecht festbiss.

Nix „Hörner bei den Figaristen abstoßen“ 

Ambrogio Beccaria zeigte sich im Laufe der Jahre nach seinem beeindruckenden Mini-Transat-Sieg (was ihm übrigens als 1. Italiener gelang) weiterhin vor allem technisch interessiert. So segelte er mehrfach erfolgreich auf dem Pogo Foiler mit Tanguy Bouroullec, bevor er sich schließlich der Class 40 zuwandte.

Auch hierfür halfen ihm seine hervorragenden Kontakte aus der Mini-Szene, aber auch seine Beliebtheit und Kompetenz als Segler weiter. Mit Ian Lipinski gewann er im Shorthanded Modus die Class 40-Regatta Les Sables-Horta zu den Azoren (und zurück). Und allen war klar: Der Typ macht es wie Lipinski oder Koster und startet vom Mini gleich durch in Richtung der elitären Vierzig-Fuß-Klasse. Mit „Hörner abstoßen“ bei den französischen Figaro-Helden wollte er erstmal nichts zu tun haben.

Nicht, dass er sich dort nicht auch behauptet hätte. Aber nach eigenen Aussagen interessierte ihn an der Class 40 zunächst einmal nur das Eine: das Boot als solches. Bei dessen Konstruktion er bitteschön maßgeblich dabei sein wollte.

Woher kommt das Kleingeld?

Doch wie das nunmal so ist mit den Träumen und Visionen: Zumindest im Hochseeregattasport müssen dieselben erstmal finanziert werden. Und da half dann tatsächlich ein wenig der Zufall oder zumindest Fortuna. 2021 war Ambrogio bei der Rekordfahrt des Maserati Mutli 70 (Skipper: Soldini) im Ärmelkanal dabei.

Der Renner brauchte nur viereinhalb Stunden für die Längsquerung von Cowes nach Dinard. In Soldinis Umfeld lernte Ambrogio auch das Management von Pirelli kennen, einer der größten italienischen Segelsport-Sponsoren, besonders sichtbar beim Luna Rossa America’s Cup Team. Al er dort mit seinem Class 40 Projekt vorsprach, rannte Ambrogio also „offene Türen“ ein.

© beccaria/pirelli

Schon war der Bau einer Class 40 in greifbare Nähe gerückt – fehlte nur noch die Werft, die sowas „hinkriegt“. Bei den spezialisierten Franzosen war alles auf Jahre hinaus ausgebucht und für den Italiener aus Mailand war es sowieso Ehrensache, dass sein Boot in Italien gebaut wird – in der Werft „San Giorgio Marine“ waren noch Kapazitäten frei.

Und mit den Architekten Gianluca Guelfi und Fabio d’Angeli fand Ambrogio „sein“ Traumteam, das es ihm auch ermöglichte, eigene Ideen und Ansätze in den Riss einzubinden. Nach einer „zwar schnellen, letztendlich aber doch besonnenen“ Bauzeit ließen die Italiener die „Allagrande Pirelli“ im Sommer 2022 zu Wasser.

Im Rahmen der Klassenregeln wurde das Boot völlig auf den Italiener zugeschnitten. Wie zum Beispiel beim Cockpit-Dach. Beccaria: „Es gibt viele kleine Details, die die „Alla grande“ perfekt für mich machen. Sie ist maßgeschneidert und spiegelt meinen Segelstil vollständig wider.“ Wie im Fall des Cockpitdachs.

Keiner Mann – niedriges Dach

„Wir haben das einzige Boot in der Flotte, bei dem die Winschen unter dem Dach angebracht sind, was bedeutet, dass ich mich zum Manövrieren bücken muss“, erklärt Ambrogio Beccaria, der etwas kleiner ist als der Durchschnitt seiner Konkurrenten, was den Vorteil eines niedrigeren Daches mit sich bringt. Deshalb habe er versucht, den Designer davon zu überzeugen, das Dach deutlich niedriger zu gestalten. Der Konstrukteur verfolgte jedoch etwas andere Regeln und meinte, dass die Schaffung eines nicht praktikablen Manövrierraums alles verkomplizieren würde. Der Streit dauerte einige Zeit an.

Die endgültige Lösung wurde gefunden, indem die Manövrierbedingungen im Cockpit nachgebildet wurden. „Wir haben den Raum im Büro nachgebaut, indem wir Stühle an die Wände geschraubt haben, um die Proportionen zu simulieren“, so der Segler weiter. „Am Ende stellte sich heraus, dass er Recht hatte, also haben wir es ein paar Zentimeter höher gemacht, als ich vorgeschlagen hatte. Als wir alles zusammenklebten, war es perfekt.“

Die Alla Grande © pirelli

Nach Aussagen von Beccaria gibt es noch viele weitere Details im Boot, die seine Handschrift tragen. Ähnlich wie Bootsbauer Simon Koster, der die „Banque Lemans“ quasi mitbaute, legte Beccaria während der ganzen Bauphase Hand an. „Nur so lernt man das Boot kennen, das einen später sicher über die Ozeane bringen soll.“

Schafft er das Podium?

Ambrogio Beccaria ist also auf dem besten Weg respektive auf der besten Route, um eine „sichere Bank“ in der Class 40 zu werden. Selbst wenn er jetzt noch taktische „Kardinal-Fehler“ machen und sich in die mittlere Reihe der 58-Boote-Flotte einfädeln müsste, hat er dennoch bereits bewiesen, dass man mit einem nagelneuen Boot, ohne jegliches Training darauf, vorne durchaus mitmischen kann. Ein Podiumsplatz, auf dem ein „kleiner“ Italiener dann verschmitzt grinst, wäre auch bei der Route du Rhum durchaus eine kleine/große Sensation!

Route du Rhum Tracker 2022

Michael Kunst

Näheres zu miku findest Du hier

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