Blinde, Sehbehinderte und gehörlose Menschen gehen bei der Kieler Woche in der J/70-Klasse an den Start. Wie meistern die Seglerinnen und Segler mit Einschränkungen diese Herausforderung? Geht das überhaupt? Das fragen sich viele Zaungäste, Experten wie Laien gleichermaßen. Dass das Meer in dieser Hinsicht barrierefrei ist, zeigen zwei Hamburger Crews mit seh- und hörbehinderten Aktiven seit Donnerstag (9. September). Ein Pilotprojekt des Norddeutschen Regatta Vereins (NRV), der Segelabteilung des FC St. Pauli und des Hamburger Gehörlosen Sportverein (HGS) bringt bei der Kieler Woche gelebte Inklusion auf die Regattabahn.
In einem Team starten zwei Menschen mit schwerer Sehbehinderung und zwei Sehende zusammen, im anderen vier Gehörlose. Weder werden ihre J/70-Boote an spezielle Bedürfnisse angepasst, noch die Bewertungskriterien. Zudem ist die Konkurrenz stark. Die J/70 ist eine von der Bundesliga bekannte, extrem sportliche Einheitsklasse.
Zwei segelbegeisterte Ex-Goalballer
Angefangen hat alles mit einem Segelworkshop für Menschen mit Sehbehinderungen in Hamburg im September 2020. Mit dabei waren der blinde Johannes „Jo“ Löschke und der sehbehinderte David Koch, beide langjährige Goalball-Leistungssportler. Segelneuling David Koch war direkt vom Wassersportvirus infiziert. „Ich habe es total genossen, auf dem Boot zu segeln, und wollte, dass es nicht bei einer einmaligen Aktion bleibt. Deshalb habe ich gefragt: ‚Wo können wir damit noch segeln?‘ So kamen wir auf die Regattateilnahme“, erklärt David Koch. Gemeinsam mit Sven Jürgensen, der das Pilotprojekt „Gelebte Inklusion auf der Regattabahn“ von NRV, St. Pauli und HGS initiierte, schmiedeten sie Wettkampfpläne.
Große Unterstützung für die „Fledermäuse“
„Im Grunde war es im wahrsten Sinne des Wortes eine Schnapsidee, als wir nach dem Workshop auf ein Getränk zusammensaßen. Und nun sind wir hier auf der Kieler Woche“, freut sich Jo Löschke. Schnell fanden sich finanzielle Unterstützer für das Inklusionsprojekt, wie die stellvertretende Vorstandsvorsitzende bei der Reinhard Frank Stiftung, Frauke Rawert, die Freie und Hansestadt Hamburg und auch die J/70-Klassenvereinigung. „Bat Sailing Team“ nennen sich die Sehbehinderten in Anspielung auf die eingeschränkten Sehfähigkeiten von Fledermäusen.
Seit Ende März haben sich die Crews mit fachkundiger Begleitung auf die Kieler Woche vorbereitet. 15 Trainingseinheiten wurden auf der Alster in Hamburg absolviert. Aufgrund der Corona-Einschränkungen durften die Sportler zunächst nur zu zweit auf der J/70 trainieren, erst später als komplette Crew. „Im Nachhinein war das sehr hilfreich, weil jedes Crewmitglied alle Positionen auf dem Boot kennengelernt und ausprobiert hat“, erklärt Taktikerin Mieke Klein, die zusammen mit Steuermann Marvin Hamm die Crew als Nicht-Behinderte unterstützt. So auch beim finalen Training drei Tage vor dem ersten Wettfahrttag auf der Kieler Förde. Die Kieler Woche solle definitiv keine einmalige Aktion bleiben. Stattdessen sei geplant, langfristig zusammen weiter zu segeln und zusätzlich andere Vereine beim Aufbau inklusiver Segelprojekte zu unterstützen, so die 35-Jährige.
Starke Farbkontraste helfen
„Bei den Anfängen auf der J/70 hieß es nie ‚So geht es‘, sondern es galt immer herauszufinden, wie es funktioniert. Und das hat prima geklappt“, berichtet Mieke Klein begeistert. Besonders wichtig sei, viel miteinander zu kommunizieren und das gesamte Geschehen und die Situationen auf dem Wasser ganz genau zu beschreiben, erklärt Jo Löschke den Lernprozess mit Sehbehinderungen. „Außerdem nutzen wir starke Farbkontraste, zum Beispiel bei den Tapemarkierungen an den Fockschoten. Und David durfte die Gennakerfarbe aussuchen, weil er dort immer hineinschauen muss. Zur Orientierung benutzen wir die Uhr, der Bug ist auf zwölf Uhr, das Heck auf sechs“, erläutert Löschke. Trotz aller hilfreichen Tricks gäbe es einige Grenzen, sagt er. Bei viel Wind würde er zum Beispiel anderen, die besser sehen können, den Vortritt auf dem Vorschiff lassen.
Für einige der Crew ist die Kieler Woche der erste Wettkampf, entsprechend gespannt sind die Hamburger. Ob sie aufgeregt sind? „Nein, eigentlich nicht. Eher fokussiert und positiv gestimmt. Wir nehmen es, wie es kommt – wir haben bei unterschiedlichen Wetterbedingungen von Leicht- bis Starkwind trainiert. Und wir werden jedes Boot feiern, das hinter uns liegt“, sagt Mieke Klein. „Natürlich würden wir am liebsten gewinnen, wissen aber, dass wir gegen die erfahrenen Mannschaften keine Chance haben. Wir sind dabei, das ist das Wichtigste“, lässt der ehemalige Goalball-Nationalspieler Jo Löschke sportlichen Ehrgeiz durchblicken.
Als größte Herausforderung sehen Jo Löschke und David Koch das Aufrechterhalten der Konzentration über die komplette Wettfahrtzeit. „Wir müssen uns ohnehin immer sehr stark konzentrieren. Das wird anstrengend, wie vermutlich auch die Lautstärke und das damit verbundene Filtern der vielen Informationen“, erklärt Löschke.
Werden sie alle Signale mitbekommen?
Das „Deaf Team“ der Gehörlosen dagegen macht sich am meisten Sorgen wegen der Kommunikation. Besonders Skipper Markus Halle war vor dem Start beunruhigt, dass er nicht alle wichtigen Informationen mitbekommen und verstehen werde. „Wir sind darauf angewiesen, dass uns ein Dolmetscher die aktuellen Mitteilungen der Regattaleitung gegebenenfalls in Gebärdensprache übersetzt. Unsere einzige, nicht sichtbare Barriere ist die Kommunikation“, so der Segellehrer und Fachexperte für Gehörlosen-Wassersport. Doch Wettfahrtleiterin Christina Buch beruhigt: „Letztendlich zählen während der Rennen ohnehin hauptsächlich die optischen Signale, wie die Flaggen und Tafeln. Das gilt für alle anderen Teilnehmer auch“, erklärt sie und sorgt damit für sichtbare Erleichterung beim Team.
„Wir wollen bei der Kieler Woche zeigen, dass wir gut segeln können und eine Behinderung kein Ausschlusskriterium ist“, ist sich das „Deaf Team“ der Gehörlosen einig, das krankheitsbedingt nur zu viert antritt. Dazu gehören neben Skipper Markus Halle die 38-jährige Karen Maren Suthmann und Jürgen Keuchel (66), beide mit Segelerfahrung. Als Neueinsteiger ergänzt der Berliner Jan Lichtenberger (50) das Team.
Klopfen bedeutet Ree bei der Wende
An Bord gibt es bei der gehörlosen Crew klare Regeln und eine feste Rollenverteilung. Wenn Skipper Markus Halle mit dem Fuß auf dem Deck aufstampft, wissen alle Crewmitglieder Bescheid, dass sie aufpassen müssen. „Aufstampfen heißt ‚Aufmerksamkeit‘, Klopfen bedeutet ‚Ree‘ beim Wenden. Besonders wichtig ist der Augenkontakt untereinander. Mit Handzeichen zeige ich die Manöver an. Und auch die Mimik spielt bei der Verständigung eine Rolle“, erklärt Halle die wortlose Kommunikation an Bord.
Bislang kannten die Teammitglieder die Kieler Woche nur von Berichten oder als Zuschauer vor Ort. Nun sind sie plötzlich mittendrin im Geschehen und hoffen, damit auch andere hörbehinderte Menschen zum Segeln zu motivieren. „Gehörlose sollen sich nicht verstecken, sondern aktiv dabei sein“, so Jan Lichtenberger, der sich auf seine erste Regatta freut. Von der Menge der Boote ist die „Deaf Crew“ beeindruckt. Halle sagt: „Ich bin froh und stolz, dass meine Mitsegler so mutig sind, hier anzutreten.“
Ihre Teilnahme an der Kieler Woche empfinden die Gehörlosen als ein erstes gutes Signal, auch wenn sie noch über die ein oder andere Barriere ein wenig stolpern. Zum Beispiel wenn ihnen für spontan wichtige Informationen ein Dolmetscher fehlt oder sie Tonsignale nicht hören. In anderen Ländern sei das Segeln für Gehörlose bereits einen Schritt weiter, berichten die Vier und hoffen, dass Deutschland in dieser Hinsicht bald aufholt.
Dirk Ramhorst, Organisationsleiter der Kieler Woche-Regatten, freut sich über die Teilnahme der beiden gehandicapten Teams: „Gelebte Inklusion hat bei der Kieler Woche seit vielen Jahren eine hohe Bedeutung, war aber bisher im Wesentlichen beschränkt auf die paralympischen Bootsklassen und damit auf Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Das ist sicherlich erst ein kleiner Schritt, aber absolut in die richtige Richtung gehend.“ (khe)
Schreibe einen Kommentar