Tokio-Olympiasieger Willy Kuhweide und Weltmeister Philipp Buhl im Interview der Deutschen Sporthilfe über den Stellenwert von Medaillen, Veränderungen in den letzten fünf Jahrzehnten und die Olympischen Spiele in Tokio.
„Eine Olympia-Medaille ist das Ziel, aber nur schwer planbar“ – da sind sich Philipp Buhl und Willy Kuhweide einig. Segel-Legende Kuhweide hatte sich 1964 in Tokio zum ersten Segel-Olympiasieger der Bundesrepublik Deutschland gekürt. Diesen Sommer und damit 57 Jahre später, will Buhl in ebenjener Bucht von Enoshima ebenfalls auf olympische Medaillenjagd gehen. Zwei Segler-Generationen im Gespräch:
Philipp, Du hast mit dem Weltmeistertitel 2020 eines Deiner beiden großen Ziele erreicht, von denen Du seit Deiner Jugendzeit träumst. Wie lebt es sich seitdem damit?
Philipp Buhl: Es ist absolut super, diesen Erfolg im Gepäck zu haben. Vor allem zu Beginn der Corona-Zeit war es unglaublich wertvoll, mit einem Erfolg in die Wettkampfpause zu gehen, anstatt mit einer Enttäuschung. Dieser Titel ist ein massiver Meilenstein in meiner Karriere. Er gibt all den Herausforderungen, Entbehrungen, den Investitionen und vor allem der Ungewissheit über viele Jahren hinweg, ob ich jemals dieses Ziel erreichen würde, schlagartig und nachhaltig einen Sinn. Ich denke immer noch regelmäßig mit Freude an die WM zurück und werde das sicher mein Leben lang nicht vergessen.
Herr Kuhweide, Sie leben in den USA, in Arizona, was hat Sie bislang durch die Pandemie getragen?
Willy Kuhweide: Vor knapp zwei Jahren ist meine Frau Irma an Herzversagen gestorben, das hat zu sehr großen Veränderungen in meinem Leben geführt. Die Pandemie hat meine Umwelt nochmal mehr verschoben. Da ich zur Gefahren-Altersgruppe zähle, bin ich doch sehr froh, dass ich mittlerweile die Impfung bekommen konnte. Mein Naturell hat mir zudem eine Gabe mitgegeben, dass ich in harten Zeiten immer in der Lage war, mich mit anderen Dingen intensiv zu beschäftigen. So studiere ich seit langer Zeit das Thema „Aufbau und Grundlagen des Daseins“, mit Phi als zentraler Rolle, und bin restlos fasziniert über die bislang gefundenen Ergebnisse. Also: Langeweile ist ein Fremdwort.
Philipp, langweilig ist Dir trotz Pandemie-Pause sicherlich auch nicht gewesen. Durch den WM-Erfolg warst Du einer der Top-Favoriten für die Olympischen Spielen. Wie sehr hat Dich die Verschiebung geschmerzt?
Buhl: Ich war eigentlich sehr entspannt. Mit dem guten Gefühl des WM-Sieges ging manches leichter. Auch konnte ich zum ersten Mal seit fast zehn Jahren den Sommer weitgehend daheim im Allgäu verbringen. Das hat mir gutgetan. Und da ich noch kein Karriereende geplant habe, wusste ich, dass ich mich auch auf 2021 gut vorbereiten kann, vielleicht sogar noch besser als für 2020.
Das heißt, Du warst mit Deinem Leistungsvermögen, das souverän zum Weltmeistertitel gereicht hat, noch nicht zufrieden?
Buhl: Man muss dafür wissen, dass die Verhältnisse in Australien, wo die WM stattfand, grundverschieden zu denen in Japan sind. Melbourne war ein reines Starkwind-Revier, während es in der Enoshima-Bucht, wo die Olympiaregatta stattfindet, alles geben kann – eine Woche lang Leichtwind oder auch eine Woche lang Starkwind, entsprechend muss man sich darauf vorbereiten.
Herr Kuhweide, kommt Ihnen das bekannt vor? Bei den Olympischen Spielen in Tokio 1964 haben Sie dort die Goldmedaille gewonnen.
Kuhweide: Die Spiele 1964 waren im Oktober, dieses Mal finden sie erheblich früher statt. Es ist deshalb zu erwarten, dass es unangenehm schwül und heiß sein wird. Aber wind- und wellentechnisch gesehen gibt es keine Unterschiede, der Grundtenor ist, wie Philipp richtig sagt, „Allround“. Es gibt keine Windstärke, auf die man sich einstellen könnte, man muss mit allen Windstärken rechnen.
Abgesehen von Wind und Wellen: Welche Erinnerungen haben Sie noch an den Herbst von vor 57 Jahren?
Kuhweide: Das sind Momente, die man natürlich nicht vergisst. Das Umfeld hat mir sehr gut gefallen, wobei sich meine Erfahrung auf die Gegend von Enoshima und das kleine Olympiadorf beschränkt. Das habe ich in sehr positiver Erinnerung, was Service, Qualität und Auswahl anbelangt. Tokio zu besuchen, hat man mir erst später bei der Abreise erlaubt.
Sie sprechen damit die politische Situation an. Sie wurden erst in letzter Sekunde zur Regatta zugelassen …
Kuhweide: Die besondere Situation war, dass sowohl Bernd Dehmel [Segler der DDR, Anm. d. Red.] als auch ich vor Ort waren und wir uns beide die gesamte Zeit auf die Regatta vorbereiteten. Aber keiner von uns wusste, wer letztendlich den Zuschlag für den einen, gesamtdeutschen Platz bekommen würde. Die Politiker haben hinter den Kulissen hin und her verhandelt, und es wurde letztendlich vom IOC-Präsidenten Avery Brundage entschieden, dass wir ein Stechen segeln sollten. Deswegen konnte ich auch nicht zur
Eröffnungsfeier nach Tokio. Leider erschien Bernd Dehmel nicht zum Stechen. Mit dieser Sachlage hat Brundage dann eine halbe Stunde vor Auslaufen zur ersten Regatta entschieden, dass ich den einen Platz erhalte.
Buhl: Wieso ist Bernd Dehmel nicht gekommen?
Kuhweide: Er wurde von seinen Funktionären ausgebremst. Man hat gesagt, wir klären das politisch.
Buhl: Was für einen Stellenwert hat die olympische Medaille, die Du damals gewonnen hast, für Dich jetzt noch, im fortgeschrittenen Alter? Wie sehr beschäftigt Dich das heute noch?
Kuhweide: Klare Antwort: Nicht mehr sehr viel. Ich habe gewissermaßen davon Abstand genommen. Das ist eine Fähigkeit, die ich auch in anderen Bereichen meines Lebens erfolgreich angewendet habe. Nämlich, dass ich zu der jeweiligen Phase immer die Prioritäten entsprechend gesetzt habe. Und wenn sich die Priorität klar geändert hat, dann habe ich das konsequent durchgezogen.
Wie ist dann heute Ihre Verbindung zum aktiven Sport, wann sind Sie das letzte Mal gesegelt?
Kuhweide: Selbst Segel gesetzt habe ich das letzte Mal 1988 in einem Soling-Boot, aber das war ohne Ambitionen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich gerade die Leitung der Lufthansa-Pilotenschule in Arizona übernommen und damit beruflich die Weichen gestellt. Als Konsequenz daraus habe ich nach den vielen Jahrzehnten, die ich aktiv gesegelt bin, davon Abschied genommen.
Was haben Sie von der Segelei in die Fliegerei mitnehmen können?
Kuhweide: Ich bin mit dem Segeln aufgewachsen, ich habe es nie speziell beigebracht bekommen. Das beinhaltet, dass Mutter Natur einem eine gehörige Portion Talent mitgegeben haben muss, um so erfolgreich wie Philipp oder ich werden zu können. Und hier ist das Faszinierende: In der fliegerischen Ausbildung habe ich erst später gelernt, warum das, was ich beim Segeln gemacht habe, richtig oder eben manchmal falsch war. Die Parallelen in der Aerodynamik sind so eklatant, dass ich sie gleichermaßen verwenden konnte.
Wie ist es bei Dir, Philipp, hast du das Segeln auch in die Wiege gelegt bekommen?
Buhl: Als ich noch ziemlich klein war, bin ich schon mit meinem Vater gesegelt. Es hat mir einfach unglaublich viel Spaß gemacht. Ich glaube, wenn man großes Interesse und Freude an etwas hat, dann lernt man es auch. Ein Beispiel: Im Englischunterricht in der Schule war ich immer miserabel. In dem Moment, als ich beim Segeln festgestellt habe, dass mir Englisch in der Kommunikation mit internationalen Leuten hilft, stieg auch das Interesse an der Sprache.
Kuhweide: Ich hatte eine ganz ähnliche Erfahrung. Ich war auf dem französischen Gymnasium in Berlin und bin später auf das Steglitzer Gymnasium gewechselt. Und dort war Englisch angesagt. Das hatte ich nicht gelernt, da fehlten mir zwei Jahre, und da hing ich genauso hinterher wie Du. Und erst kurz vor dem Abitur, nachdem ich mich dann entschieden hatte, Pilot zu werden und wusste, dass das die Fliegereisprache ist, bekam ich plötzlich dieses Interesse und habe es immer schneller gelernt.
Als erfolgreicher Segler muss man nicht nur physisch stark sein, Boot, Wind, Wellen und die Konkurrenten beherrschen, sondern auch gut in Planung, Management und Logistik sein. Philipp, wie viele Boote hast Du in Häfen oder Bootshäusern liegen, um kontinuierlich trainieren und Regatten fahren zu können?
Buhl: Ein Boot liegt in der Regel am Trainingsstützpunkt in Kiel. Eins ist über den Sommer hinweg auf dem Hänger, wenn wir im Frühjahr in Portugal und Spanien die Regatten abgrasen und dann wieder über Frankreich nach Kiel zurückfahren. Das dritte Boot ist unterwegs im Container. Nach Japan schickt der Deutsche Seglerverband zwei Container mit sämtlichen Booten, wobei das Boot, das im Wettkampf gesegelt wird, vom Veranstalter gestellt wird.
War das 1964 auch schon so?
Kuhweide: Ja, 1964 in Tokio wurden die Finns auch vom Ausrichter gestellt, alle so identisch wie möglich hergestellt. Aber das, was Philipp ansonsten beschreibt, unterscheidet sich im Vergleich zu uns wie Tag und Nacht. Wir hatten keine drei Boote. Ein ganz wichtiger Grund war natürlich das Finanzielle. Ich war Schüler, habe dann mein Abitur gemacht, bin anschließend für fünf Jahre zur Luftwaffe gegangen und danach zur Lufthansa. Auf meinem beruflichen Werdegang lag meine hundertprozentige Priorität. Und nur – ich betone das bewusst – nur meine Freizeit habe ich in die Segelei gesteckt.
Buhl: Interessant! Aber das hat sich sportartübergreifend in eine andere Richtung entwickelt. Bei mir ist es heute ein Fulltime-Job. Es gibt weltweit genügend Leute, die den Sport auf so einem hohen Level betreiben, dass es mit einem Halbtages-Programm nicht funktioniert. Was nach dem Sport kommt, weiß ich noch nicht. Ich bin da aber relativ entspannt, weil ich denke, dass ich irgendwann mein Studium beenden und dann schon etwas finden werde. Vielleicht lässt sich das auch mit dem Profisegelsport verbinden, Stichwort „America’s Cup“.
Jetzt stehen aber – hoffentlich – erstmal die Olympischen Spiele an. Du sagtest einmal, dass die Spiele in Rio 2016 „die größte Enttäuschung“ Deiner Karriere waren. Hast Du mit Olympia noch eine Rechnung offen?
Buhl: Dieser Satz mit Rio ist zweischneidig. Auf der einen Seite bin ich stolz, dass ich überhaupt bei den Olympischen Spielen war. Ich glaube, je länger die Zeit vergeht, desto eher ist einem bewusst, dass allein die Teilnahme eine besondere Leistung ist. Allerdings war mein Ziel als damaliger Weltranglisten-Erster eine Medaille und der 14. Platz somit einfach eine große Enttäuschung. Jetzt ist es ähnlich, die Vorbereitung und Weiterentwicklung waren vielleicht noch intensiver, auch wenn mich der WM-Titel im Gepäck in gewisser Weise entspannt. Aber ich möchte mir selbst gegenüber immer realistisch bleiben. Man kann eine Medaille nur schwer planen, zumal ich neun starke Konkurrenten zähle. Meine Erwartung an mich selbst ist, einfach nur fleißig darauf hinzuarbeiten und das Beste aus mir herauszuholen.
Herr Kuhweide, was trauen Sie Philipp und dem German Sailing Team zu? Kann man überhaupt nach der Corona-Pause eine Einschätzung abgeben?
Kuhweide: Ich freue mich, wie Philipp sich da eben ausgedrückt hat, so habe ich ihn auch aus der Entfernung eingeschätzt. Er ist glücklicherweise nicht nur ein sehr guter Segler, sondern auch Realist. Und das ist von großer Bedeutung. Er weiß, dass es sehr schwierig werden wird. Die Pandemie wird viele, teilweise recht stark verändern. Es wird Leistungsverschiebungen geben, mehrheitlich leider negativer Art. Es wird sehr darauf ankommen, wie sich die Olympioniken darauf einstimmen können. Was Philipp anbelangt glaube ich, dass er das Zeug dazu hat, seine Stärken aufrecht zu erhalten und gebe ihm sehr guten Chancen, mit einer Glanzleistung aufwarten zu können! Meine große Sorge ist allerdings, ob die Olympischen Spiele stattfinden. Ich drücke die Daumen, dass es so sein wird.
Quelle: go!d – Das Magazin der Deutschen Sporthilfe
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