An der Deutschen Meisterschaft der H-Boote (5. bis 10.9.) nahm auch ein aus Myanmar geflohener Journalist teil, der vor einem Jahr erstmals auf einem Boot saß. Sein Steuermann Sven Hansen berichtet.
„Segeln war früher für mich unvorstellbar. Ich kannte das nur aus Filmen und als Sport der Elite und von hohen Militärs,“ sagt Kyaw Soe. Der 38-jährige Videojournalist, dem ein Praktikumsangebot meines Arbeitgebers taz im Dezember 2021 zur Flucht aus Myanmar (englisch einst Burma, deutsch Birma) verhalf, ist seit einem Jahr Vorschoter auf meinem H-Boot.
Gerade haben wir zusammen mit Kai Müller, ebenfalls Journalist, die Internationale Deutsche Meisterschaft der H-Boote auf dem Berliner Müggelsee als 13. von 31. Booten beendet. Hätte ich nicht so viele Starts versemmelt und wäre uns bei der letzten Wettfahrt, einem klassischen „Schweinerennen“, der Wind gnädig gewesen, hätten wir auch besser sein können. Schließlich kamen wir einmal als Zweite und als Dritte ins Ziel.
„Erzähle ich Freunden aus Myanmar, dass ich gerade an einer Deutschen Segelmeisterschaft teilgenommen habe, glaubt mir das niemand. Sie halten mich dann für einen Angeber,“ sagt Kyaw Soe. „Manchmal kann ich es ja selbst nicht glauben. Ich denke dann, ich träume.“
Umgekehrt dürften auch die meisten Segler hierzulande das südostasiatische Myanmar nicht auf ihrer Seekarte haben. Dabei ist das dortige Mergui-Archipel in der Andamanensee Ziel von Luxus-Segel- und Tauchtouren. Und mitten in Yangon (Rangun), der früheren Hauptstadt, liegt der mit der Außenalster im Hamburg vergleichbare Inya-Lake, Heimat des elitären Yangon Sailing Club. Dessen Präsident Moe Myint steht auch dem nationalen Verband vor und ist ein mächtiger Öl- und Gastycoon. Früher war er laut Wikipedia der Pilot des Langzeitdiktators Ne Win.
In den Villen am Inya-See wohnen Generäle und ihre Günstlinge, die sich an den natürlichen Ressourcen des Landes bereichern. So ist denn auch die spektakulärste Segelverbindung zu Deutschland das seewasserbeständige Teakholz aus Myanmars rapide schrumpfenden Wäldern, das 2018 beim Refit des Segelschulschiffes Gorch Fock verbaut wurde. Laut Umweltschützern wurde es illegal geschlagen, was man aber dem Importeur, der das stets bestritten hat, nicht nachweisen konnte.
Kyaw Soe lernte ich 2019 kennen, als er an einem Journalistenworkshop der taz Panter Stiftung in Berlin teilnahm. Von 2013 bis zur Corona-Pandemie habe ich mit Kollegen und finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes 45 Journalisten aus Myanmar Denkanstöße zu kritischem Journalismus vermittelt. Schon damals fiel er mir als sehr offen, lernbegierig und experimentierfreudig auf.
Seine Eltern sind Kautschuk-Bauern in einem Dorf im tiefen Süden des Landes an der Grenze zu Thailand. Seine Berichte über den lokalen Widerstand gegen eine Gaspipeline, die der französische Konzern Total dort in Kooperation mit der damaligen Militärjunta nach Thailand baute, machte ihn zum Korrespondenten des Senders Democratic Voice of Burma. Der wurde von Norwegens Regierung finanziert und brachte Kyaw Soe im thailändischen Bangkok das journalistische Handwerk bei. Sein Studium verdiente er sich mit Kautschukhandel, zudem baute er einen regionalen Journalistenverband auf und betrieb ein lokales Nachrichtenportal.
Rückkehr der Diktatur und Flucht nach Deutschland
Doch am 1. Februar 2021 stürzte der Militär die gerade wiedergewählte Regierung der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Seitdem herrscht wieder eine brutale Diktatur, gegen die sich die Bevölkerung auch bewaffnet wehrt. Laut der angesehenen lokalen Menschenrechtsorganisation AAPPB haben Juntakräfte bisher mehr als 4.000 Menschen getötet und 24.700 verhaftet. Kritische Medien wurden verboten, Journalisten müssen untertauschen, fliehen oder den Beruf wechseln. Da in Myanmar Personalausweise die Berufsbezeichnung enthalten, sind Reporter leicht zu identifizieren.
Über Monate versteckte sich Kyaw Soe bei einer Familie. Er blieb sogar unentdeckt, als das Militär das Haus durchsuchte, doch darauf drängte die Familie zur Flucht. Er kontaktierte mich in Berlin und findigen Kolleginnen gelang es, ihm ein Praktikumsvisum zu besorgen.
Als wir Wochen später bei einer Radtour um den Wannsee am Winterlager meines Bootes vorbeikamen, bemerkte ich sein Erstaunen. Er wollte mir als Dank unbedingt helfen, das Boot für die Saison fit zu machen. Zum Dank nahm ich ihn mit zum Segeln unter der Bedingung, dass er als Nichtschwimmer immer eine Schwimmweste trägt.
Der Videojournalist wird zum Segler
Als typischer Videojournalist machte er aus seiner ersten Segelerfahrung gleich einen Film. Zufällig schickte die H-Boot-Klassenvereinigung mir als Regionalobmann eine 360-Grad-Kamera. Die sollte ich an Mitglieder verleihen, damit diese unsere Social-Media-Kanäle mit Videos bespielen. Da aber niemand die Kamera leihen wollte, bat ich Kyaw Soe, sie auszuprobieren. So kam er öfter an Bord – als Kameramann.
Im Herbst fehlte mir bei einer Yardstick-Regatta ein Vorschoter und ich bat ihn einzuspringen. Als ich ihn während der Wettfahrt aufforderte, einen Strecker um einen Zentimeter zu fieren, schaute er mich hilflos an. Denn Zentimeter sagen ihm nichts, weil im von den Briten kolonisierten Myanmar in Inches gemessen wird. Die sind mir aber nicht vertraut.
Da ich auch nicht die Namen aller Strecker, Bootsteile und Segelausdrücke auf Englisch kenne, entwickelten wir unsere eigene Sprache: „Open the thin yellow one two thumbs please“ meint etwa das Auffieren des gelben Unterliekstreckers rechts oder links auf dem Kajütdach um etwa drei Zentimeter. Zum Glück hat jede Leine ohnehin eine andere Farbe. Inzwischen ist Kyaw Soe damit nicht nur vertraut, sondern versteht auch, warum er etwas verstellen soll, wenn Kurs oder Wind sich ändern. Auch stellt er die Fockschot nach der Wende längst allein ein.
„Seine Auffassungsgabe ist phänomenal“
Dank der wöchentlichen Donnerstagsregatten der Vereine von Stößensee und Scharfer Lanke an der Berliner Unterhavel ist er heute fast schon ein alter Hase. Ihn wundert längst nicht mehr, warum Segler so oft nach oben schauen, wie er es einmal in einem taz-Artikel beschrieben hat. Wie wir hat er verinnerlicht, dass oben auf der Mastspitze der Verklicker die Windrichtung anzeigt. Auch die Böen auf dem Wasser kann er vorher erkennen. Und es irritiert ihn auch nicht mehr, wenn an der Startlinie oder den Tonnen laut „Raum“ gebrüllt wird. Als wir jetzt bei der Meisterschaft einen Strafkringel drehen mussten, kannte er auch das schon. Als wird das im Frühjahr erstmals machen mussten, hatte er sich sehr gewundert, als ich ihm nach seinem schnellen Setzen des Spinnakers von ihm verlangte, den sofort wieder zu bergen, weil wir mit dem Segel die Ablauftonne berührt hatten.
Der andere Vorschoter Kai ist voll des Lobes: „Kyaw Soes Auffassungsgabe ist phänomenal, vor allem was die Abstimmung innerhalb des Teams betrifft. Er versteht schnell, wo er sitzen, welche Leine er ziehen muss, welche Einstellungen richtig sind. Dabei bewegt er sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze übers Deck.“ Es bereite ihm keine Mühe, Abläufe immer auf dieselbe eingespielte Art durchzuführen. „Und er ist so fürsorglich, dass er mir bei allem, was er selbst tun muss, oft noch das Ende der Leine hinhält, die ich als nächstes greifen muss. Er denkt so viel schneller als ich.“
Kyaw Soe hat durch das Segeln an Selbstvertrauen gewonnen und stellt auch bei sich Veränderungen fest: „Wenn ich segel, werde ich mehr und mehr zum Teil des Bootes. Ich fühle mich leichter und voll Energie.“ Längst hat ihn das Regattafieber gepackt. Die Teilnahme an der Meisterschaft war da nur noch die logische Konsequenz. Dabei hatte ich ihn eigentlich anheuern wollen, um darüber ein Video zu drehen. Doch dann fragte ich ihn lieber als Schotten an. Trotzdem griff er vor und nach einigen Rennen routiniert zur Kamera und macht daraus mal eben einen kleinen Film, der die hochsommerliche Atmosphäre und Leichtwindstimmung gut einfing.
Bei der Meisterschaft war die Konkurrenz groß, der Wind nicht einfach. Kai erinnert sich: „Als es am ersten Tag nicht so gut lief für uns, fragte Kyaw Soe mich abends, was er selbst tun könne, damit wir als Team besser würden. Mir fiel nicht viel ein, was ihn betraf. Denn Fehler hatte er nicht gemacht. Doch sagte ich ihm, dass er bei Vorwindkursen der Einzige ist, der nach hinten in Richtung des Windes blicke. Dafür braucht es ein erfahrenes Auge. Schon am nächsten Tag gab uns Kyaw Soe Infos über das Verhalten der Verfolger und Änderungen des Windes – unaufdringlich und präzise.“
Auf den Spuren Jochen Schümanns beim YCBG
Kyaw Soe selbst war schwer beeindruckt, als er am Eingang des Clubhauses des Yacht Clubs Berlin-Grünau (YCBG) die „Hall of Fame“ des seit Jahrzehnten erfolgreichen Regattavereins betrat. Dort erinnern Fotos an die vielen Medaillen seiner Mitglieder, allen voran natürlich Jochen Schümann: „Ich traf jetzt eine dort verewigte Seglerin, die 1988 an den Olympischen Segelwettbewerben teilgenommen hatte. Da war ich gerade mal drei Jahre alt,“ sagt er ehrfurchtsvoll. Er sei stolz, in so einem Umfeld segeln zu dürfen.
Am Müggelsee wuchs Kyaw Soe, den schon die Segelabteilung Stößensee meines Vereins PSB 24 sehr freundlich aufgenommen hat und für die er einen Imagefilm produzierte, in die H-Boot-Familie hinein. „Mich ärgert nur, dass ich noch kein Deutsch spreche, dann hätte ich mich besser unterhalten können,“ sagt er selbstkritisch. In der Tat fällt ihm leichter, Segeln zu lernen als die deutsche Sprache.
Dabei fühlt sich auch Kai durch seinen Ko-Vorschoter kulturell bereichert: „Meine eigene Aufmerksamkeit ihm gegenüber wird dadurch erhöht, dass nicht nur das Segeln, sondern die ganze deutsche Kultur erklärungsbedürftig ist. Kyaw Soe Dinge zu zeigen, die er noch nicht kennt, sei es „süßes Bier“ (Radler) oder süßen Senf, macht mich selbst wacher und sensibler für meine Gewohnheiten. Das betrachte ich als ein Geschenk.“
Ein gefährliches Land für kritische Journalisten
Ein Schock für uns war, als wir am Eröffnungstag der Meisterschaft erfuhren, dass in Myanmar der Pressefotograf Sai Zaw Thaike zu 20 Jahren Haft und harter Arbeit wegen „Falschinformation“ und „Aufwiegelung“ verurteilt wurde. Es ist die bisher höchste Gefängnisstrafe für einen Journalisten seit dem Putsch. Er hatte über die tödlichen Folgen des Zyklons Mocha im Mai berichtet, was die Junta unterbinden wollte. Jetzt hatte er im Prozess nicht einmal einen Anwalt.
„Ich hoffe, er wurde nicht gefoltert,“ sagt Kyaw Soe. „Der Fall vergrößert meine Angst, nach Myanmar zurückzukehren.“ Für die meisten Menschen sei die Vorstellung der Rückkehr in die Heimat doch eigentlich berauschend, für Flüchtlinge aus Myanmar aber mit großen Ängsten verbunden. Nachdem die Bewerbung um ein Aufbaustudium zweimal an Formalien scheiterte, darf er inzwischen für drei Jahre in Deutschland als freier Journalist arbeiten. Davon sind allerdings schon acht Monate vergangen.
„Ich ahne, dass es in seinem Leben auch eine dunkle, traurige Seite gibt, über die wir nicht reden. Seine Familie zurückgelassen zu haben und über Nacht in ein fremdes Land geflohen zu sein, muss belastend sein. Man spürt es an Kyaw Soes Ernsthaftigkeit. Je besser ich ihn kennenlerne, desto größer mein Wunsch, er möge hier glücklich und stolz auf sich sein,“ sagt Kai.
„Mich beruhigt das Segeln sehr,“ sagt Kyaw Soe, der in Myanmar zwei Kinder hat. „Es gibt mir Kraft und ist eine gute Ablenkung. Mich hat sehr beeindruckt, dass wir uns als Team nicht haben entmutigen lassen, als wir anfänglich nicht so gut abgeschnitten haben.“ Sein Verhalten und sein Blick hätten sich schon verändert, wenn er Boote sehe, sagt er. Er achte jetzt an Häfen auf Masten und was für Segelboote er dort sehe. Auch beachte er die Wind- und Wetterbedingungen. „Ich muss jetzt noch mehr lernen über Theorie und Technik des Segelns und was mir die Wolken sagen.“ Das wird er sicherlich schaffen.
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